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5 Fragen an Jürgen Schultheis

Was hat Sie dazu gebracht und motiviert, in der Mobilitätsbranche zu arbeiten?

Ich war lange Zeit Redakteur der Frankfurter Rundschau und habe nach meiner Zeit als Stellvertretener Ressortleiter das Thema Verkehr übernommen. Der Ausbau des Frankfurter Flughafens und das Mediationsverfahren waren damals eines der am meisten diskutierten Themen. Über Fragen des Umweltschutzes, der Belastungen durch Verkehr und des Klimawandels bin ich dann schnell aufmerksam geworden auf den Missstand, dass der Verkehrssektor über Jahre wenig bis nichts zu den völkerrechtlich verbindlichen Klimaschutzzielen auf globaler, europäischer und nationaler Ebene beigetragen hat. Im Blick auf die Umweltwirkung und den Energieverbrauch rückte dann vor allem das Thema Straßenverkehr in den Fokus. Wir hätten schon vor Jahren ein 2- oder 3-Liter-Auto ohne Probleme bauen können, aber die Entwicklung ist anders verlaufen: Autos werden immer schwerer, immer leistungsfähiger und immer teurer, und was an Effizienzgewinnen noch möglich ist beim Verbrennungsmotor, auch wenn es nur noch wenig ist, wird durch das höhere Gewicht zunichte gemacht. Gleichzeitig bieten sich heute durch die Digitalisierung auch und vor allem im ÖPNV, durch multi- und intermodale Angebote faszinierende Möglichkeiten, das Verkehrsaufkommen zu verringern, die Mobilität gerade in Ballungsräumen zu erhöhen und die Umweltwirkungen des Verkehrs drastisch zu minimieren. Deshalb bin ich von der Mobilitätsbranche und ihren Möglichkeiten mehr denn je fasziniert.

Ist die Verkehrswende in Deutschland überhaupt möglich, ohne in die Greenwashing-Falle zu tappen? Wie kann sie nachhaltig gestaltet werden?

Die Frage lässt sich nicht so einfach beantworten, weil sie drei Themen anspricht. Zunächst einmal die Verkehrswende. Auch wenn oft behauptet wird, die Verkehrswende sei in vollem Gange, habe ich Zweifel. Wir haben einen Höchststand bei zugelassenen Pkw in Deutschland, der Trend geht hier und da zum Drittwagen, der Benzinverbrauch, wie oben erwähnt, stagniert bei durchschnittlich gut sieben Liter auf 100 Kilometer, und die junge Generation absolviert wieder vermehrt die Führerscheinprüfung. Die Verkehrsleistung nimmt nicht ab, also das Produkt aus Personen und den gefahrenen Kilometern. Umgekehrt kommen mehr Elektro-Pkw auf den Markt, die Zahl der Menschen, die CarSharing nutzen, nimmt zu und das Deutschlandticket, bei aller Unvollkommenheit in der Konstruktion, leistet einen messbaren Beitrag für den Umstieg vom Auto auf den ÖPNV – auch wenn es nicht in dem Maße erfolgt, wie sich das manche Beobachter wünschen. Kurzum kann man zum Schluss kommen, dass die Verkehrswende gerade einmal eingeleitet worden ist.

Beim Thema Greenwashing ist die Frage, welche Kriterien ich anwende, um zu beurteilen, ob es sich um Greenwashing handelt. Da spielt der Begriff der Nachhaltigkeit eine entscheidende Rolle. Aber Adjektive wie smart, nachhaltig und klimaneutral sind teilweise so zerdehnt worden, dass sie ihren Inhalt nicht nur im Einzelfall verloren haben. Vor diesem Hintergrund ist Greenwashing dann gegeben, wenn ein Ressourcen- und Energieverbrauch für ein Produkt oder eine Leistung als nachhaltig bezeichnet wird, obwohl er anteilig über die Regenerationskapazität des biogeophysikalischen Systems der Erde hinaus geht, also im wortwörtlichen Sinne die Erde „verbraucht“. Der Erdüberlastungstag erinnert uns ja alljährlich daran, und er fällt jedes Jahr auf ein früheres Datum. 1971 war der Erderschöpfungstag global Ende Dezember, in diesem Jahr war die Regenerationsfähigkeit der Erde am 2. August erschöpft. In Deutschland fällt der Tag in diesem Jahr auf Anfang Mai. Wenn alle so wirtschaften, verbrauchen und leben wollten wie wir hier in Deutschland, brauchten wir bald drei Erden.

Im Gespräch mit dem Publizisten Ulrich Gruber hat der Forstwissenschaftler Georg Sperber vor einigen Jahren gesagt, er glaube, dass sich die Gesellschaft gar nicht bewusst gewesen sei „worauf sie sich mit dem Rio-Bekenntnis zur nachhaltigen Entwicklung eingelassen hat“. Es bedeute nämlich ein „Umkrempeln bis tief in das Wesen dieser Industriegesellschaft“.

Gleichwohl gibt es sehr ernst gemeinte Ansätze, nachhaltig im strengen Wortsinne zu wirtschaften, und ich scheue mich nicht, das Beispiel des vielfach ausgezeichneten Outdoor-Ausrüsters Vaude zu nennen. Solche Unternehmen haben aber nur dann Erfolg, wenn Kund:innen durch ihre Kaufentscheidung dieses wichtige Engagement belohnen.

Für den Verkehrssektor bedeutet das, mit dem möglichst geringstem Ressourcen- und Energieaufwand eine möglichst große Zahl von Menschen von A nach B zu bringen. Das ist der Leitsatz im Cluster Mobility, für das ich im House of Logistics and Mobility verantwortlich bin. Die Maßgabe und das Kriterium für den geringstmöglichen Aufwand ist die Regenerationsfähigkeit des Planeten. Ja, es ist möglich, im anspruchsvollen Sinne nachhaltig Verkehr zu organisieren, aber der Kraft- und Überzeugungsaufwand ist riesig, wenn wir dieses Ziel erreichen wollen. Und da stehen wir ganz am Anfang.

Jürgen Schultheis

Welche Rolle spielt der Bus im Rahmen der Verkehrswende?

Der Bus passt geradezu ideal in das, was ich eben abstrakt formuliert habe. Bei Energieverbrauch und Umweltbelastung schneidet der Bus als Verkehrsmittel im Regelfall, ja fast durchweg besser ab als jedes andere Verkehrsmittel, sofern der Bus vollbesetzt ist. Wenn der Bus nun elektrisch angetrieben wird, also entweder den Energiespeicher Batterie oder Brennstoffzelle nutzt, ist er bei aller gebotenen Vorsicht ein Verkehrsmittel, das in der Verkehrswende und im Blick auf die Einhaltung der Klimaziele von großer Bedeutung ist. Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Ich kann natürlich Wolkenkuckucksheime bauen, wenn ich von der Mobilität der Zukunft rede, kann mir ideal ausgebaute Schienenverbindungen vorstellen, hunderte Kilometer toller Radwege, und das alles ist richtig und überfällig, aber angesichts des Klimawandels, der mit allen negativen Folgen an Dynamik gewinnt, brauchen wir am besten vorgestern ein Verkehrsmittel mit geringerer Umweltwirkung. Schienenprojekte haben heute ein Planungs- und Realisierungszeitraum von 30 bis 40 Jahren, und selbst Schnellradwege lassen sich hierzulande nicht in zehn Jahre bauen. Wenn der Bus dann eines nicht allzu fernen Tages autonom im 24/7-Betrieb als Rufbus ohne Fahrer unterwegs ist, weil Quantenrechner die jeweils beste Routen berechnen, dann wird der Bus auch in ländlichen Regionen die Angebotsqualität des ÖPNV enorm erhöhen. Ein Thema übrigens, dass uns bei der alljährlichen Konferenz „Die Zukunft Intelligenter Transportsystem: Quantencomputing in Aviation, Logistik und Mobilität“ der Cluster im HOLM beschäftigt. Nicht zu vergessen ist der Bus ein wichtiger Teil im Gesamtsystem Verkehr mit seinen multimodalen Angeboten, die über Mobilitätshubs organisiert werden. Aber er hat leider ein mäßiges Image, weshalb es einer guten Kommunikation bedarf, um all diese Vorteile zu vermitteln.

Welche Rolle kann ESG (Environmental, Social, Governance) im Rahmen der Verkehrswende spielen, und wie können Unternehmen sicherstellen, dass ihre ESG-Praktiken nicht nur Greenwashing bzw. Green Marketing sind?

ESG ist wie die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) und das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz eine Regelung, um Nachhaltigkeit jenseits gefälliger Prosa über Nachhaltigkeit messbar zu machen. Die CSRD wird im Übrigen umgesetzt durch den Europäischen Standard für die Nachhaltigkeitsberichterstattung (ESRS), die dann greift, wenn Unternehmen mehr als 250 Beschäftigte haben und der Umsatz größer ist als 40 Millionen Euro. Die Berichterstattung nach ESRS ist vom 1. Januar 2024 an gesetzlich vorgeschrieben. Ob und wann auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU) im Verkehrssektor berichtspflichtig sind, kann ich derzeit nicht beurteilen.

Gleichwohl sind solche Regularien ein Beitrag, Wertschöpfung auch im Verkehrssektor auf eine klimaneutrale Zukunft auszurichten und der Sache eine solide Grundlage zu geben. Das galt im Übrigen auch für das Klimaschutzgesetz der alten Bundesregierung mit den für jeden Sektor festgeschriebenen CO2-Minderungszielen.

Solche Regularien antworten ja gleichermaßen auf den gesellschaftlichen Druck vor dem Hintergrund des Klimawandels wie auf den Wunsch nach Investitionssicherheit, weil mit dem Klimawandel die Risiken steigen. Sie müssen sich nur bei den Versicherern umhören, wie sie angesichts aktueller Entwicklungen die Risiken neu bewerten, für die sich Kund:innen versichern wollen.

Im Bereich Environment des ESG werden Strategien zur Verringerung der Umweltwirksamkeit, der Anpassung an den Klimawandel und die CO2-Reduktion ebenso gemessen und bewertet wie die Umstellung auf nachhaltige Mobilität und Logistik. ESG wirkt also mitten hinein in den Kernbereich der Verkehrswende. Wer diese Kriterien mittelfristig nicht erfüllt, könnte es schwer haben, kreditfinanzierte Investitionen zu realisieren, weil Banken sich weigern werden, Geld zu geben. Nicht zuletzt könnte auch der gesellschaftliche Druck erheblich werden, mehr gegen den Klimawandel zu tun, und die Scientists Rebellion oder die Letzte Generation sind ja nur einige Beispiele für die Kampagnenfähigkeit solcher Bewegungen.

ESG ist in jedem Fall ein Fortschritt, weil Greenwashing deutlich erschwert wird. Die Nutzung fossiler Energieträger wie Öl ist dann nicht mehr möglich. Zugleich bedeutet es aber einen erheblichen Aufwand, die Daten für die ESB-Berichterstattung zu erfassen und auswerten zu lassen. KMU, unter die die Busbetriebe in der Regel fallen, werden sich damit vermutlich schwertun. Da sehe ich Handlungsbedarf.

In Deutschland wird immer mit Technologieoffenheit in Bezug auf Antriebsarten argumentiert. Was ist Ihre Einschätzung? Ist dies ein Wettbewerbsvorteil oder -nachteil?

Das kommt darauf an, ob ich den Begriff wissenschaftlich-technisch verstehe oder als politischen Begriff nutze. Das Ziel ist klar: Wir wollen den Kohlenstoff aus dem Energieträger für unsere Antriebe verbannen, soweit das möglich ist. Wir sollten außerdem das oben genannte Kriterium anwenden, mit möglichst geringem Energie- und Ressourcenaufwand den Verkehr möglichst effizient zu organisieren. Auf dieser Grundlage entsteht ein Bild, das aus wenigen Elementen besteht: Als Energiespeicher kommen im Regelfall nur die Batterie und die Brennstoffzelle in Frage, wenn es um den straßengebundenen Pkw- und Lkw-Verkehr geht. Der Verbrennungsmotor hat, wenn überhaupt, nur noch eine Chance, wenn als Alternative zu Benzin und Diesel HVO eingesetzt wird, so genanntes Diesel aus biogenen Rest- und Abfallstoffen mit deutlich geringerer CO2-Belastung, das die Deutsche Bahn jetzt einsetzen wird. Das gilt auch für die Binnen- und Hochseeschifffahrt. Im Flugverkehr sind es die SAFs, die Sustainable Aviation Fuels, die ebenfalls aus Rest- und Abfallstoffen hergestellt werden, oder langfristig Wasserstoff.

Technologieoffenheit bedeutet vor diesem Hintergrund, offen zu sein für neue Verfahren und Methoden, mit denen CO2 reduziert, der Energieeinsatz verringert und die vorhandene, knappe „grüne“ Energie möglichst effizient genutzt werden kann. Oder wenn neue Rohstoffe als Substitute für Seltene Erden erforscht und genutzt werden für Batteriespeicher oder Elektromotoren, wo wir bislang abhängig sind von Staaten außerhalb der EU. Wo das gelingt, steigt die Wettbewerbsfähigkeit der Verkehrsunternehmen, weil die Energiekosten verringert werden können.

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